Germany

Lehren aus der Pandemie: „Wir müssen dringend raus aus den Kleinen“

Er wollte kein kurzes Statement schreiben, aber er wollte eine Art Befreiung von seiner Zeit als Gesundheitsminister und seinem Rücktritt aus gesundheitlichen Gründen. „Eine Einigung mit Sebastian Kurz würde nur den Blick auf das Wichtigste verstellen“, sagte Anshober im Interview mit ORF.at am Fuße des Wiener Küniglbergs. Mit seiner eigenen Erfahrung, wie er es beschreibt, will Anshober nach vorne schauen und aus der Pandemie lernen. Weil er nicht sieht, dass bei der Bewältigung dieser globalen Krise alles schief gelaufen ist. Vielmehr hat Europa, wenn auch nach einigen Anfängen, sehr gut verstanden, dass bestimmte Aufgaben nur gemeinsam gelöst werden können. „Für mich war die Entwicklung und Bereitstellung von Impfstoffen schon Ausdruck gemeinsamer Anstrengungen, sonst wäre es nicht so schnell gegangen“, sagte der grüne Ex-Politiker. Aber, wie er auch sagt: “Wir haben weltweit eine globale Krise, aber wir versuchen immer noch, sie auf nationaler oder lokaler Ebene zu ändern.”

Einheitliche vertrauensbildende Maßnahmen

Ein ähnliches Bild sieht er in Österreich, wo Krisenmanagement als gemeinsame Anstrengung begann – und am Ende in kleinen lokalen Entscheidungen blockiert wurde. „Wenn jemand sieht, dass es bei 50 Kilometern ganz anders läuft, stärkt das nicht gerade das Verständnis und das Vertrauen“, sagte Anshober. Es wurde verstanden, dass die Krise nur gemeinsam gelöst werden kann. Der Krieg in der Ukraine zeige dies zudem als eine Art Mission: „Du kannst nicht gut sein, wenn andere woanders schlecht abschneiden.“ Daher können Lösungen für große Krisen nur in größerem Maßstab und mit einem gemeinsamen Ansatz gelöst werden.

Interview mit dem ehemaligen Gesundheitsminister Rudolf Anshober

Anshober will eine gemeinsame Low-Morbidity-Policy für Europa. „Nur wenn wir die Fälle landesweit niedrig halten, können wir die Pandemie kontrollieren“ – das bedeutet für ihn auch, dass die Gesundheitsminister in Europa mehr Macht brauchen – und dass es Lösungen für ein verstärktes europäisches Handeln geben muss. „Jetzt müssen wir uns gemeinsam auf den Herbst vorbereiten“, rät Anshober, der uns auch daran erinnert, dass die Pandemie einfach nicht vorbei ist.

ORF.at Anschober im Gespräch: „Blick nach vorn – eine Einigung mit Kurz würde nur den Blick versperren.“

WHO-Reorganisation?

Auch die WHO müsse aus den Lehren der Pandemie reorganisiert werden – „am besten als Rechenzentrum für die Entwicklung der globalen Pandemie“. Anshober ist zuversichtlich, dass das Phänomen Zoonose weiter zunehmen wird, man muss sich also auf weitere Szenarien einstellen. Der Glaube, dass auch SARS-Covid verschont bleiben wird, wie bei ähnlichen Grippewellen in der Vergangenheit, hat sich gerade als falsch herausgestellt.

Das Buch

Rudolf Anshober: Die Pandemie. Einblicke und Perspektiven. Zholnay, 270 Seiten, 24,70 Euro.

Gelb

„Nach und nach zur europäischen Pandemiepolitik“, möchte Anshober, der die Landes- und Bundespolitik, aber auch den Stapel an Krisengipfeln kennt, als Botschaft aus eigener Erfahrung nehmen. Das Wichtigste aber sei ihm im Verhältnis von Politik und Bevölkerung: „Wir müssen wieder Erfolgserlebnisse haben – und das Vertrauen muss wiederhergestellt werden.“

Österreich und die Ebenen der Realpolitik

In Österreich brauche es klare Bundeskompetenzen und eine noch klarere Rollenverteilung bei der Bewältigung der Pandemie, sagte er. Auf die Frage, ob Österreich als Weltmeister einer realen Politik, die seinen eigenen Gesetzen folgt, mehr Regeln brauche, sagte Anshober: Tatsächlich sind die Menschen der Politik oft voraus. Er will auch nicht alle Länder vereinen, weil das mancherorts sehr gut funktioniere. Anshober ist jedenfalls auch der festen Überzeugung, dass es eine Annäherung zwischen den Bundesländern und Wien geben muss, zumal eine Zwei-Millionen-Stadt teilweise ganz andere Bedürfnisse hat als andere Landesteile. Lösungen müssten aber immer im Lichte des Ganzen gefunden werden: „Was man in dieser Pandemie sieht, ist, dass die Kleinteiligkeit der Dinge auch ihren eigenen Populismus hat.“

Österreich

Anschober: “Keine Aussprache bei Kurz”

Er sei jedenfalls froh, dass die populistische Parole, dass der eine gut ist, wenn andere schlecht abschneiden, nicht durchgesetzt wird – „das Gegenteil ist der Fall“. Durch die Bedrohungen der Gegenwart gibt es nun ein neues Bewusstsein – und dieses gilt es zu nutzen. Auch um zu zeigen, wie eng die einzelnen Krisen letztlich miteinander verknüpft sind und wie wir auch ganzheitliche Lösungen gesucht haben. Auf jeden Fall will er bei seiner Lesetour ins Gespräch kommen – und dass er nicht immer nur Freunde treffen wird, dessen ist er sich auch bewusst. Wie viele Menschen gerade jetzt die Pandemie im Rückblick lesen wollen, wird der Grundstein für den Erfolg des Buches sein. Dies kann ein Anstoß für intensive Debatten sein.