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Mehrwertsteuer: 0 Prozent für Lebensmittel? “Es ist eine vernünftige Idee.”

Wirtschaftliche Entlastung der Bürger

Nullzinssteuer auf Lebensmittel? “Es ist eine vernünftige Idee.”

Stand: 21. April 2022 | Lesezeit: 5 Minuten

Von Christoph Kapalschinski

Lebensmittel sind rund 6,2 Prozent teurer – Obst und Gemüse sogar noch mehr

Gesund, frisch und ziemlich teuer. Lebensmittel sind laut Statistischem Bundesamt im vergangenen Jahr um rund 6,2 Prozent teurer geworden. Verbraucher müssen für Obst und Gemüse tief in die Tasche greifen. Viele Menschen verlassen sich auf ihre eigene Landwirtschaft.

Verbände fordern eine Umkehrung der Mehrwertsteuer auf Grundnahrungsmittel, auch Landwirtschaftsminister Cem Yozdemir ist dafür. Ein Experte des DIW sagt, dass die Abschaffung der Mehrwertsteuer gewisse Vorteile gegenüber dem Festpreis für Energie oder mehr Sozialleistungen hat.

Das ist einer der Hits im Wahlkampf von Marin Le Pen vor der Entscheidung im Präsidentschaftsduell in Frankreich: Der Rechtspopulist will die Mehrwertsteuer für 100 Produktgruppen abschaffen. Der Politiker verspricht, dass auf diese Weise Babywindeln, Butter, Reis, Salz und Fisch billiger werden könnten.

In Frankreich ist die Debatte in vollem Gange. Wirtschaftsforscher warnen vor gewaltigen Steuerausfällen von 100 Milliarden Euro. Le Pen hingegen polarisiert: Ein Teil der Gegenfinanzierung müsse in geringeren Sozialleistungen für Migranten versteckt werden, rechnete sie vor.

In Deutschland hingegen steht die Diskussion um die Mehrwertsteuer erst am Anfang – und kann wesentlich sachlicher geführt werden. Am Mittwoch forderten mehrere soziale Organisationen gegenüber der Nachrichtenagentur dpa eine Null-Mehrwertsteuer auf einige Grundnahrungsmittel.

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„Gesunde Ernährung sollte keine Frage des Geldes sein“, sagt Barbara Bitzer, Geschäftsführerin der Deutschen Diabetes Gesellschaft. Auch der VdK Sozialverband und der Bundesverband der Verbraucherzentralen schlossen sich der Forderung an. Schließlich gilt die Mehrwertsteuer, deren Satz für alle Käufer gleich ist, im Gegensatz zur Einkommensteuer als unsozial. Das sind große Summen: Laut Finanzministerium stiegen die Einnahmen aus dieser inländischen Umsatzsteuer im Jahr 2021 um 11,2 Prozent auf 187,6 Milliarden Euro.

Landwirtschaftsminister Cem Yozdemir (Grüne) hat sich der Forderung bereits angeschlossen: „Wenn wir Obst und Gemüse billiger machen, entlasten wir nicht nur die Verbraucher relativ günstig, sondern fördern durch den Reglementierungseffekt auch eine gesunde Ernährung“, sagte er der dpa.

Der Moment der Nachfrage von gesellschaftlichen Organisationen ist gut gewählt. Derzeit sind die Lebensmittelpreise einer der Inflationstreiber. Für das Gesamtjahr rechnet das Ifo-Institut mit einem Preisanstieg von sieben Prozent: Steigende Treibstoffkosten und der Mindestlohn treffen die Landwirte, Getreide wird knapp, zum Beispiel durch den Krieg in der Ukraine.

Entlastung für Geringverdiener auf einfache Weise

Auch die Steuersatzdebatte führt zu einer EU-Entscheidung. Anfang dieses Monats hat Brüssel die Mehrwertsteuerrichtlinie nach jahrelanger Debatte angepasst. Bisher war es den Mitgliedstaaten untersagt, auf fast alle Produkte und Dienstleistungen weniger als fünf Prozent Mehrwertsteuer zu erheben. In dieser Hinsicht ist es den nationalen Haushaltspolitikern bisher gelungen, viele Forderungen in den Kinderschuhen zu beseitigen. Allerdings sind nun großzügigere Ausnahmen erlaubt – zum Beispiel für ökologisch sinnvolle Produkte, aber auch für Grundnahrungsmittel.

Unterstützt wird die Initiative sozialer Organisationen durch das DIW Institut für Wirtschaftsforschung. „Das ist ein sinnvolles Konzept“, sagte DIW-Steuerexperte Stefan Bach WELT. „Anders als komplexe Entlastungen wie die geplante Pauschale für den Energiepreis durch Arbeitgeber und die Einkommenssteuer, kann diese mit einem Federstrich beantragt werden.“ Die Abschaffung der Steuer könne so auch dazu genutzt werden, einkommensschwache Personen zu erreichen die vorherigen Hilfepakete wurden weggelassen.

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Anders als bei der Anhebung der Sozialleistungen erreicht die Streichung Rentner, die mit der Beantragung der Grundsicherung zurückhaltend sind. Gleichzeitig bringen sinkende Lebenshaltungskosten an anderer Stelle Einsparungen: Hartz-IV-Leistungen auf Basis eines Einkaufswagens müssen nicht so stark steigen. Unterm Strich könnten Steuersenkungen die staatliche Quote senken.

Steuerausfälle wären nach Bachs Berechnungen überschaubar. Selbst wenn die Mehrwertsteuer auf alle Lebensmittel entfällt, werden es immer noch 12,3 Milliarden Euro sein. Zulagen für Erfrischungsgetränke kosten zusätzlich 3,5 Milliarden Euro. Damit würde die Defizitquote des Staates ohne Gegenfinanzierung um knapp 0,4 Prozentpunkte steigen.

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Die Anforderungen sozialer Organisationen sind jedoch viel begrenzter – und daher billiger. Die Verbraucherzentrale beispielsweise setzt sich für die Abschaffung der Mehrwertsteuer insbesondere bei Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten ein. Junkfood muss teuer bleiben.

Auch der Wirtschaftsforscher sieht durch die Steuer Chancen, mehr Governance zu entwickeln. Er schlägt vor, dass zum Beispiel Fleisch künftig mit einem regulären Steuersatz von 16 Prozent belegt werden könnte. Der Gesetzgeber hat zudem die Möglichkeit, einige Kuriositäten in den Steuerregelungen zu beseitigen – etwa die Bevorzugung von Trinkmilch gegenüber Mineralwasser. Andere Mehrwertsteuervorteile wie Blumen und Tiernahrung können reduziert werden.

Die Forderung nach höheren Steuern auf Zuckerprodukte

Immer wieder taucht die Diskussion um die Mehrwertsteuer auf. Verbraucherschützer und Gesundheitspolitiker fordern seit längerem eine höhere Besteuerung des Konsums zuckerhaltiger Produkte. Vorbild ist Großbritannien, wo es seit 2018 eine solche Steuer auf Zucker gibt.

Teilweise waren die Proteste erfolgreich: Vor zwei Jahren senkte der damalige Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) nach Aktionen von Frauenrechtlerinnen die Steuern auf Menstruationsprodukte. Das größte echte Experiment mit der Mehrwertsteuer war jedoch die begrenzte Senkung mitten in der Corona-Krise im Sommer 2020. Damals sanken die Sätze von 19 auf 16 und von 7 auf 5 Prozent. Scholz wollte den Verbrauch stabilisieren und Verbraucher entlasten.

Die Erfahrungen mit der damaligen Reduktion seien gut, analysiert der Experte Bach. Tatsächlich haben die Supermarktketten die Erleichterung an die Kunden weitergegeben – auch aufgrund des starken Preiswettbewerbs im Handel. Allerdings dürfte Finanzminister Christian Lindner (FDP) in den kommenden Wochen weitere Anfragen erhalten. Die neue EU-Richtlinie lässt Raum für viele Forderungen. Künftig können die Mitgliedstaaten auch Steuervergünstigungen für Solarmodule und Fahrräder gewähren.

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