Antisemitismus erreicht zunehmend die Massengesellschaft. Das geht aus dem neuen, 116 Seiten starken „Lagebild Antisemitismus“ hervor, das das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) an diesem Mittwoch vorlegt. Auch Menschen aus nicht-extremistischen Kreisen seien neuerdings anfällig für antisemitische Parolen geworden, wie Demonstrationen gegen staatliche Kronenmaßnahmen zeigten.
Antisemitismus ist laut aktuellem Lagebild, das den Zeitraum von Sommer 2020 bis Herbst 2021 umfasst, in allen extremistischen Bereichen weit verbreitet: bei Rechtsextremisten, sogenannten Reichsbürgern und Selbstherrschern, Linksextremisten, Flügelextremismus und Islamismus und Auslandsextremismus. Dies ist das zweite Lagebild, das erste wurde im Juli 2020 präsentiert.
Besonders besorgt ist das BfV darüber, dass im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie zunehmend antijüdische Narrative auftauchen: „Antisemitismus hat seit Anbeginn zwei Formen angenommen“, so das Kölner ideologische Argument für Verschwörung.
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Eine geheime Macht, die die ganze Welt kontrolliert, soll die Pandemie als Werkzeug nutzen, um eine „Neue Weltordnung“ zu schaffen. Das meint zum Beispiel QAnon, dessen Verschwörungsmythos mitunter einen gewissen antisemitischen Kern hat. Die Bewegung kommt aus den USA und ist auch in Deutschland aktiv.
Gelber Stern mit der Aufschrift „ungeimpft“
Andererseits wird bei Protesten gegen die Krone die Verfolgung der Juden im Nationalsozialismus und des Holocaust mit staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie gleichgesetzt. Wird beispielsweise der gelbe Stern aus der Zeit der NS-Diktatur verwendet, jetzt mit der Aufschrift „ungeimpft“ oder „Kovid 19“.
„Es ist erschreckend“, sagt BfV-Präsident Thomas Haldenwang, „dass antisemitische Geschichten mitunter mit dem Umfeld der deutschen Gesellschaft in Verbindung gebracht werden und als Bindeglied zwischen gesellschaftlichen Diskursen und extremistischen Ideologien dienen. Wir sehen das zunehmend bei Protesten gegen die Corona-Maßnahmen oder bei Kundgebungen zum Nahost-Konflikt.
Manchmal nimmt seine Behörde dies auch im Zusammenhang mit Russlands Krieg gegen die Ukraine wahr. Auf dem Telegram-Kanal Global Resistance News werden Verschwörungstheorien verbreitet. Antisemitische Propaganda richtet sich speziell gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, weil er Jude ist.
Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz Thomas Haldenwang
Quelle: dpa-infocom GmbH
Antisemitismus beobachtet das BfV wie in den Vorjahren vor allem im rechtsextremen Spektrum. Gewalttätige Neonazi-Gruppen, die Neue Rechte, das rechtsextreme Parteienspektrum und die subkulturelle Szene verbindet ein gemeinsamer Feind. Das Motto lautet „Wir gegen die Juden“. So bereitet sich die Gruppe Nordkreuz aus Mecklenburg-Vorpommern auf den Tag X vor, an dem Deutschlands politisches System zusammenbrechen wird. Sie sammelte Munition, schulte Mitglieder im Umgang mit Waffen und machte in Chatgruppen antisemitische Kommentare.
Auch bei Demonstrationen islamistischer Gruppierungen registrierte das BfV antisemitische Parolen – zuletzt wieder gehäuft. Sie wurden im Kontext des Nahostkonflikts aufgenommen. „Letztes Jahr gab es im ganzen Land etwa 130 Kundgebungen im Zusammenhang mit antiisraelischen Kundgebungen. Die Gemeinsamkeit ist der Judenhass, der sich auf den Staat Israel konzentriert“, so das BfV.
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Nach Angaben des Inlandsgeheimdienstes wächst die Zahl der antisemitischen Straftaten landesweit “weiter stetig”. Die genaue Zahl für 2021 wird erst im Mai vorgelegt, wenn die Jahresbilanz der politisch motivierten Kriminalität erstellt wird. Festzuhalten ist jedoch, dass die Sicherheitsdienste seit 2015 einen Anstieg verzeichnen. 2020 erreichte die Zahl der antisemitischen Handlungen mit 2.351 den höchsten Stand seit ihrer Registrierung im Jahr 2001.
„Das Dunkelfeld ist viel größer, also jene Vorfälle, die aus verschiedenen Gründen gar nicht erst gemeldet werden“, sagte BfV-Chef Haldenwang. Viele Opfer widersetzten sich dem. Die Polizei kann jedoch nur das aufnehmen, was gemeldet wird, und stellt eine Straftat dar. Und die Justiz braucht manchmal lange, um einen Verdacht zu erhärten und Ermittlungen abzuschließen. Wie der Kölner Kaiser-Wilhelm-Park, der bundesweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Im August 2021 überfielen dort zwei Teenager einen Mann und stahlen ihm das Joch. Das Opfer musste mit einem gebrochenen Jochbein in eine Klinik. „Die Ermittlungen dauern noch an“, sagte die Staatsanwaltschaft Köln gegenüber WELT.
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Insbesondere das Internet diene laut BfV als Nährboden für Antisemitismus und „ist ein wesentlicher Treiber des aktuellen Antisemitismus“. Der seit Jahren andauernde Prozess der Verdrängung antisemitischer Hetze im digitalen Raum wird durch die Corona-Pandemie fortgesetzt und intensiviert.
Mit der zunehmenden Kontrolle von Inhalten in sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter verlagert sich der Fokus der antisemitischen Propaganda laut BfV auf sogenannte unkonventionelle Internetplattformen wie Mikroblogging-Dienste, Imageboards oder Gaming-Plattformen. Weil sie kaum oder gar nicht geprüft werden.
Solche Plattformen werden von Rechtsextremisten zu Propagandazwecken und zur anonymen Kommunikation innerhalb der Gruppe genutzt. „Dort gibt es Szenen, die Judenhass feiern – darunter Live-Übertragungen von antisemitischen Gewalttaten und Terroranschlägen“, sagte das BfV. Darüber hinaus können Sie den Übergang zu anonymen Chats in Messenger sehen, in denen sich Menschen mit Einstimmigkeit versammeln.
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Auf solchen Websites, Diskussions- und Blogplattformen, Videoportalen und dergleichen wird laut BfV nicht nur antisemitische Propaganda betrieben. „Vielmehr findet hier eine Radikalisierung statt“, sagte der Kölner Verfassungsschutz. Verbraucher bekräftigten dort ihre Ansichten, äußerten handfeste Drohungen, benutzten teilweise menschenverachtende Sprache und fantasierten von der Vernichtung der Juden.
Antisemitische Gewalttaten werden live übertragen
Und es hört hier nicht auf. „Auch antisemitische Gewalttaten werden angekündigt, live übertragen und dann anerkannt“, teilte das BfV mit. Antisemitische Veröffentlichungen finden sich auch in den Kommentarspalten auf den Webseiten rechtsextremistischer Zeitungen und Nachrichtenportale.
Felix Klein ist seit 2018 Antisemitismusbeauftragter der Bundesregierung
Quelle: dpa-infocom GmbH
Bundesinnenministerin Nancy Feiser (SPD) nannte “Schande über unser Land, wie viel antisemitische Hetze und Menschenverachtung heute noch verbreitet werden”. Es ist eine Schande, dass der Völkermord an den europäischen Juden von einigen Kronenleugnern verharmlost wird, die sich einen gelben Stern anheften.
„Die Pandemie wirkte als Beschleuniger des Antisemitismus“, sagte der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, gegenüber WELT zum aktuellen Lagebericht. „Auch weil er viele Kreise verbunden hat, die sich früher zum Ausdruck gebracht haben.
Hinzu kommen eine wachsende Offenheit gegenüber Israel in allen Kreisen und anhaltende Angriffe auf die Erinnerungskultur. „Viele antisemitische Straftaten werden online begangen, in Form von Beleidigungen, Drohungen, Volksverhetzung, Holocaustleugnung“, sagte Klein. Es stimmt, dass Hassverbrechen und Hassreden jetzt strenger und effektiver verfolgt werden.
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